Wissenstransfer in der jüdischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit – Bildung, Erfahrungen und Praktiken
– von Ruth Bruchertseifer, Trier [1].
Die 24. Tagung des „Forums Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit“ fand vom 16. bis 18. Februar 2024 im Tagungszentrum Hohenheim der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart statt. Organisation und Leitung lagen in den Händen von Prof. Dr. Marion Aptroot (Düsseldorf), Lisa Astrid Bestle (Mainz), Dr. des. Rahel Blum (Frankfurt am Main) und Dr. Rotraud Ries (Herford) sowie von Dr. des. Johannes Kuber für die Akademie. Wie schon bisher wurden einzelne Teilnehmende finanziell durch die GEGJ sowie den Förderverein der Akademie unterstützt. Das Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen übernahm einen Teil der Gesamtkosten.
Der Vortrag von Uta Lohmann musste leider ausfallen.
Gegenstand der Tagung waren Orte, Medien und Akteur:innen des Wissenstransfers in der jüdischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit. Aber was ist überhaupt unter Wissen zu verstehen? Dieser Frage widmete sich einführend Lisa Astrid Bestle (Mainz). Sie sprach sich für ein breites Begriffsverständnis nach Achim Landwehr aus, das Wissen als „Ensemble von Ideen“ beschreibt. Im Judentum als „lernender Religion“ (Micha Brumlik) erfuhren Wissen und Wissensvermittlung traditionell besondere Wertschätzung. Entsprechend befasste sich die Wissenschaft des Judentums bereits früh mit Wissensgeschichte. Das Forschungsinteresse galt zunächst Büchern als bedeutendstem, wenn auch nicht einzigem Medium der Wissensvermittlung. Ein neuerer Schwerpunkt liegt auf Wissen, Lehren und Lernen im Handwerk. Prozesse der Integration von Wissen aus anderen Kulturen und Religionen werden an Übersetzungen ins Jiddische sichtbar. Die Rezeption jüdischer Wissensbestände durch Humanisten führte aber auch zu problematischen ethnographischen Darstellungen und zur Tradierung antijüdischer Stereotype. Als Leitfragen der Tagung identifizierte Bestle zum einen jene nach jüdischem Wissen sowie dem Wissen von Jüdinnen und Juden, und zum anderen die Frage danach, was jüdischen Wissenstransfer ausmachte.
Um Bücher als klassische Medien der Wissensvermittlung ging es im Online-Vortrag von Kerstin von der Krone (Frankfurt am Main). Sie vermittelte einen Eindruck von der Vielfalt jüdischer Bildungsliteratur zur Zeit der Emanzipation. Durch die Einführung von Religionsunterricht und zahlreiche Schulneugründungen im Kontext der Haskala war die Frage nach der Eignung der bisherigen Lehrbücher in den Fokus geraten. Sie bewegte Aufklärer wie Orthodoxe. Kritik gab es sowohl an der inhaltlichen Beschränkung der vorhandenen Lehrbücher auf religiöse Kerninhalte als auch an deren didaktischer Aufbereitung. Neue Publikationen entstanden; zu den teils neuartigen Textformaten gehörten Katechismen, Lern-Bilderbücher und Schulbibeln. Sie waren zugleich für den Unterricht wie für den Hausgebrauch gedacht. Für ein breites Publikum und unter der Beobachtung der Behörden verfasst, enthielten die Bücher keine radikalen Ideen. Ein Vergleich von Schulinventarlisten durch von der Krone ergab, dass ein Teil der neuen Publikationen dennoch umstritten war. Zudem bestand ein Nebeneinander dieser neuen und der weiter verwendeten traditionellen Werke.
Alltagsrelevante Wissensvermittlung fand über das Medium Kalender statt. Darüber sprach zunächst Franziska Strobel (Regensburg) am Beispiel von drei Kalendern aus Süddeutschland. Sie betonte die Bedeutung von Kalendern für die Dokumentation und Tradierung von Wissen um die gegenseitigen religiösen Traditionen. Neben jüdischen und evangelischen Feiertagen enthält der älteste überlieferte jüdische Taschenkalender aus Fürth von 1737 Thora-Leseabschnitte für den Schabbat und Wetterprognosen. Der christliche Kalender von 1718 stellt die drei unterschiedlichen Zeitrechnungen von Christen, Juden und Muslimen einander gegenüber. Die jüdischen Feiertage werden für nichtjüdische Nutzer erläutert. Darüber hinaus liegt der Schwerpunkt auf astronomischen und landwirtschaftlichen Informationen. Der dritte Kalender, angelegt von einem jüdischen Händler aus Dennenlohe für das Jahr 1830/31, bietet Einblicke in die Aktivitäten seines Besitzers. Dieser notierte sich berufsbedingt zahlreiche Markttage auch weit entfernter Städte. Auch dieser private Kalender stellt christliche und jüdische Zeitrechnung und Feiertage nebeneinander.
Eine weitere Perspektive auf das Medium Kalender bot der Online-Vortrag von Marion Aptroot (Düsseldorf). Sie analysierte die Veränderungen in der Gestaltung von Amsterdamer Taschenkalendern (überliefert in der Copenhagen Collection der Bodleian Libraries der University of Oxford). In Amsterdam wurde im Jahr 1707 erstmals ein jiddischer Kalender gedruckt. Das Monopol dafür lag bei Chaim Drucker und seinen Nachfolgern. Die Idee hatte er aus Frankfurt am Main mitgebracht, wo entsprechende Kalender schon seit 1670 hergestellt wurden. Für die Drucker bildeten die Kalender oder Almanache als serielle Erzeugnisse eine verlässliche Einnahmequelle. Im Gegensatz zu mehrjährigen Almanachen der sephardischen Gemeinden gab es bei den Aschkenasim vorwiegend Jahresalmanache. Typische Elemente der mindestens fünfspaltig gestalteten Almanache waren der jüdische wie auch der christliche Kalender mit religiösen Feiertagen sowie Messe- und Marktterminen. Dazu konnten Ergänzungen kommen wie Abfahrtszeiten von Kutschen und Fähren, Erbauliches oder astrologische und astronomische Informationen. Letztere nahmen im Lauf der Zeit ab.
Auch die jüdischen Ärztefamilien, die Wolfgang Treue (Duisburg-Essen) vorstellte, lebten in Frankfurt. Sie gaben ihr medizinisches Wissen traditionell in Form einer Lehre weiter, zumeist innerhalb der Familie. Christliche Ärzte setzten jedoch im Zuge ihrer Standespolitik Studium und Promotion als Voraussetzung für die Arzttätigkeit durch. So gelang ihnen die Abgrenzung von den jüdischen Ärzten, denen der Zugang zu den Hochschulen noch bis Ende des 17. Jahrhunderts weitgehend verwehrt blieb. Dennoch, oder gerade wegen ihrer traditionellen Ausbildung, wurden die jüdischen Ärzte insbesondere vom Adel sehr geschätzt. Dessen ungeachtet studierten und promovierten auch Juden, sobald sie Zugang zu den Universitäten erhielten. Am Beispiel der alteingesessenen Familie Buchsbaum, später „Doctor“, ist allerdings zu sehen, dass viele jüdische Ärztefamilien vermutlich auf ein Nebeneinander von traditioneller familiärer Wissensvermittlung und Promotion setzten.
Mit Wissensvermittlung vorwiegend im beruflichen Kontext beschäftigte sich auch der Vortrag von Cornelia Berger-Dittscheid (Frankfurt am Main) zu Bauherrenwissen im Synagogenbau. Die Synagogenarchitektur ist in besonderem Maße das Produkt des Austauschs von Wissen und der interkulturellen Kommunikation in der christlich-jüdischen Gesellschaft. Landesherr, Rabbiner, Stifter, jüdische Gemeinde, Architekt und Handwerker waren mit ihren jeweiligen Ansprüchen und ihrer Expertise an dem Ergebnis beteiligt. Aber woher bezogen die christlichen Beteiligten ihre Kenntnis von den rituellen Abläufen der jüdischen Gottesdienste und von den Funktionen der Einrichtungsgegenstände? Am Beispiel der „kirchlichen Verfassung der heutigen Juden“ des Johann Christoph Georg Bodenschatz von 1748/49 und weiteren Werken konnte Berger-Dittscheid zeigen, dass Konvertiten wie auch Hebraisten über entsprechendes Wissen verfügten. Veröffentlichungen wie die von Bodenschatz enthalten Anhaltspunkte dafür, dass die Autoren mit den jüdischen Gemeinden kommunizierten. Ähnliches sei für die Wissensvermittlung beim Synagogenbau anzunehmen.
Noch vor dem beruflichen Wissenserwerb aber steht jener in Schule und Unterricht. Mit Schulbildung und Schulen als Orten der Wissensvermittlung befassten sich daher drei Vorträge. Zvi Kunshtat (Baltimore) erläuterte die Bedeutung von Jeschiwot als Zentren des Lernens und der Gelehrsamkeit. Sie dienten ebenso dem Wissenserwerb wie auch dem Lernen als religiösem Gebot. Welch hoher Stellenwert dem Lernen beigemessen wurde, zeigt sich auch darin, dass diesbezügliche Verordnungen gleich am Anfang von diversen Takkanot aus dem 17. Jahrhundert aufgeführt sind. Sie betonen unter anderem die Wichtigkeit, einen Rabbiner einzustellen. Die Schüler einer Jeschiwa wurden in die ne’arim und die fortgeschrittenen bachurim unterschieden. Letztere wurden vom Rabbiner unterrichtet, während der Unterricht für erstere zumindest zum Teil von den bachurim übernommen werden konnte. Kunshtat wies zudem darauf hin, dass die Bräuche und Vorschriften sich in vielen Gemeinden ähnelten, was für einen Wissensaustausch der Gemeinden untereinander spricht.
Michael Imhof (Petersberg) stellte eine von Fürstbischof Heinrich von Bibra (Fulda) 1784 erlassene Verordnung vor, die eine Schulreform für die jüdische Gemeinde Fulda vorsah. Traditionell erfolgte der Unterricht im Cheder, einem Zimmer im Haus des Lehrers, oder in wohlhabenden Familien durch einen Privatlehrer. Dagegen sah die Verordnung des Fürstbischofs Schulpflicht und Zugang zu Bildung für alle vor, unabhängig vom Vermögen. Die Verordnung regelte die Einrichtung und Führung der Schule sehr detailliert und nannte bereits den vom Fürstbischof vorgesehenen Lehrer Josef Joel, den die Gemeinde besolden sollte. Doch die Gemeinde verstand die Vorschriften als Einschränkung ihrer kulturellen Autonomie. Lohnzahlungen an den Lehrer blieben aus, und zahlreiche Familien hielten ihre Kinder vom Unterricht fern. Nach dem Tod des Fürstbischofs wurden Privatlehrer wieder erlaubt. Nur der verpflichtende Deutschunterricht durch einen christlichen Lehrer blieb bestehen, der jedoch schlecht besucht wurde.
In der anschließenden Diskussion wurde die Frage nach der Qualifikation der Lehrer aufgeworfen. Darauf antwortete der Vortrag von Andreas Brämer (Hamburg) über den Wissenserwerb jüdischer Religions- und Elementarlehrer in Preußen im 19. Jahrhundert. Den traditionellen Unterricht im Cheder erteilten vielfach diejenigen, die ein rabbinisches Studium begonnen, aber nicht abgeschlossen hatten. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert aufkommende Reformschulen fanden zunächst keine allgemeine Verbreitung. In Preußen leitete erst die staatliche Bildungspolitik ab 1824 einen grundlegenden Wandel ein. Qualifikationsnachweise für jüdische Lehrkräfte wurden verpflichtend. Es kam zur Einrichtung konfessioneller Seminare für die Lehrerausbildung; das Ausbildungsniveau stieg. Die Integration von säkularen Inhalten in die Lehrpläne ermöglichte einen Kulturtransfer, der den Aufstieg der jüdischen Minderheit in Wirtschaft und Gesellschaft förderte. In der Folge hielten es jedoch immer weniger Eltern für nötig, ihre Kinder auf die Konfessionsschulen mit ihren eigens ausgebildeten jüdischen Lehrern zu schicken. Daher sah Brämer die Berufsgruppe der jüdischen Lehrer als Opfer des eigenen Erfolgs.
Ein besonderes Medium der Wissensvermittlung, die „Studienbibeln“, stellte Claudia Rosenzweig (Ramat Gan) vor. Möglich wurde deren Entstehung im 16. Jahrhundert durch den Buchdruck und die Aufwertung der Volkssprachen. Beispielhaft präsentierte Rosenzweig eine Übersetzung des Pentateuch ins Jiddische aus Cremona aus dem Jahr 1560. Der Druck übernahm paratextuelle Elemente aus früheren, ähnlichen Bibeln. Diese älteren Ausgaben wurden jedoch von Hebraisten in Zusammenarbeit mit Konvertiten verantwortet und hatten daher andere Zielsetzungen. Gemeinsam hat die Cremona-Bibel mit ihnen die Art, wie der Text strukturiert wurde. Auf eine ansprechende Gestaltung wurde Wert gelegt. Das Seitenlayout wurde den Vorgängern gegenüber stark angepasst, um die traditionellen Kommentare sowie erläuternde Glossen auf Italienisch zu ergänzen. Als Zielpublikum nennt die Einleitung sowohl Frauen als auch alle Männer ohne religiöse Grundbildung, denen so der Erwerb dieses Wissens ermöglicht werden sollte.
Birgit Klein (Heidelberg) sprach über Wissenstransfer in christlichen und jüdischen medizinischen Sammelhandschriften und gedruckten Arzneibüchern. Einführend wies sie auf die fließenden Grenzen zwischen Ritus und Magie hin. Von der Wissenschaft wurden kabbalistische Traditionen allerdings lange vernachlässigt. Neben magischen Elementen setzte die christliche wie die jüdische frühneuzeitliche Medizin auf die Nutzung von menschlichen Bestandteilen wie pulverisiertem Schädel, die auch in den Apotheken zu finden waren. Zu medizinischen Zwecken wurden sogar Behandlungen mit Blut zugelassen, trotz der religiös assoziierten Unreinheit in allen abrahamitischen Religionen. Die Rezepte in jüdischen Schriften ähneln denen der christlichen Überlieferung: Seit Hildegard von Bingen wurde die Verwendung von Menstruationsblut gegen Krankheiten wie Epilepsie empfohlen; im 17. Jahrhundert publizierten christliche Verfasser Übersichtswerke über die „Dreckapotheke“. Magische Einflüsse zeigten sich im Nebeneinander von Rezepten, Amuletten und Beschwörungsformeln. Auch dafür nahm Klein einen Wissenstransfer an, wie die Anrufung der Heiligen Drei Könige in einer jüdischen Beschwörungsformel nahelege.
Marius Müller (Salzburg) untersuchte die Darstellung jüdischen Wissens in der jesuitischen Missionszeitschrift „Der Neue Welt-Bott“ (1726-1761). Einer der Beiträge beschreibt eine Begegnung des italienischen Missionars Giampaolo Gozani mit Juden in China im Jahr 1704. Der Missionar interessierte sich für die Herkunft der Gemeinde sowie für die Genauigkeit ihrer Überlieferung. Dazu strengte er einen Vergleich der europäischen religiösen Schriften mit jenen der chinesischen Gemeinde an. In einem anderen Beitrag im „Welt-Bott“ verglich der Herausgeber Joseph Stöcklein den jüdischen Kalender mit anderen Kalendersystemen und erstellte davon ausgehend eine Chronologie der Weltgeschichte. Beide Beiträge beschränken sich nicht auf einen Vergleich, sondern wurden unter Rückgriff auf antijüdische Stereotype zur Stärkung jesuitischer Positionen instrumentalisiert. Da es sich also nicht um bloße Repräsentationen ihrer interkulturellen Erfahrungen handelt, ordnete Müller die jesuitischen Darstellungen jüdischen Wissens im „Welt-Bott“ zwischen Erbauung der Leserschaft und Wissenstransfer als Erkenntnispraktiken ein.
Im Fazit des breiten Themenspektrums der diesjährigen Tagung wurde noch einmal deutlich, wie zahlreich die Aspekte waren, die die Vortragenden mit Wissenserwerb und Wissenstransfer assoziieren konnten: von Büchern bis zu Bildungsinstitutionen und von beruflichem über Alltagswissen bis hin zu dem Blick auf den zeitlichen Wandel. Als ein wiederkehrendes quellenanalytisches Problem, wenn auch nicht spezifisch für das Themenfeld „Wissen“, erwies sich die Frage nach der Unterscheidung zwischen dem, was in Texten als Vorgabe formuliert oder als gelebte Praxis dargestellt wird, und dem, was sich tatsächlich als gelebte Praxis noch rekonstruieren lässt.
Im nächsten Jahr feiert das „Forum Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit“ sein 25. Jubiläum. Die Tagung findet vom 14. bis 16. Februar 2025 zum Thema „Digital in die jüdische Frühe Neuzeit – Innovative Formen der Vermittlung“ in Hohenheim statt.
[1] Herzlichen Dank an Christoph Cluse für seine umfassenden Mitschriften sowie an die Referent:innen für ihre Zusammenfassungen, auf deren Grundlage dieser Bericht entstanden ist.
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Rotraud Ries (24. September 2024). Tagungsbericht 2024. Forum Jüdische Geschichte. Abgerufen am 14. Oktober 2024 von https://www.forum-juedische-geschichte.de/1649