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Bericht 21 2020

Diversität statt Urbanität. Orte jüdischen Lebens zwischen Zentren und Peripherie vom 15. bis 19. Jahrhundert

von Helena Kappes und Oliver Kruk, Bamberg

Die 21. Tagung des interdisziplinären Forums »Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit« fand vom 7. bis 9. Februar 2020 im Tagungszentrum der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Stuttgart-Hohenheim statt. Sie wurde konzipiert und organisiert von Ulrich Hausmann (Mainz), Ursula Reuter (Köln), Rotraud Ries (Würzburg), Wolfgang Treue (Duisburg-Essen) und Petra Steymans-Kurz als Akademiereferentin. Der Vortrag von Nadine Garling (Stralsund) zu Moisling als Ausweichort jüdischen Lebens von 1656 bis 1806 musste leider entfallen.

In ihrer Einführung ging Ursula Reuter auf die Tagung 2019 ein und stellte die weiterführenden Fragestellungen vor, die sich aus ihr ergeben hatten. Unter dem Titel »Die Stadt als Ort jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit« hatte der Fokus auf Großgemeinden wie Frankfurt und Worms, neuen Gemeinden wie Wien, Sonderfällen wie Fürth und Regensburg, sowie Märkten und Kleinstädten vorwiegend im süddeutschen Raum gelegen. Schnell war dabei deutlich geworden, dass das Paradigma „Landjudentum vs. wenige städtische Großgemeinden“ relativiert bzw. differenziert werden muss. Das Plenum einigte sich deshalb auf eine Fortsetzung des Themas die unter den Titel „Diversität statt Urbanität“ gestellt wurde. Es ging um die Vielfalt von Lebens- und Organisationsformen zwischen Dorf und Metropole – zwischen Jischuv (Siedlung) und Kehille (Gemeinde).

Bereits Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Frühen Neuzeit zeigen, dass diese Vielfalt zwar bekannt ist, jedoch fehlt bisher eine systematisierende oder vergleichende Zusammenschau. Außerdem mangelt es bis heute an aussagekräftigem Kartenmaterial (ausgenommen der Geschichtliche Atlas der Rheinlande) für die Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert – auch wenn sich mittlerweile die Professur für Vergleichende Landesgeschichte und Geschichte der Frühen Neuzeit an der Katholischen Universität Eichstätt für Bayern mit einem Projekt dieses Problems angenommen hat.

Die Themenstellung der Tagung bot die Möglichkeit, folgende Aspekte zu reflektieren: Wie lassen sich unterschiedliche Siedlungsformen wie „Metropole“, „Vorort“, „Kleinstadt“ oder „Dorf“ überhaupt definieren? Gibt es Vergleichsbeispiele im Reich und in Europa? In welchem Verhältnis stehen herrschaftliche Rahmenbedingungen und jüdische Lebens- und Organisationsformen zueinander?

Rainer Josef Barzen (Münster) berichtete, dass jüdische Präsenz in ländlichen Siedlungen im nordalpinen Bereich schon seit dem 10. Jahrhundert nachweisbar und in unterschiedlichen Regionen des Reichs, vor allem seit dem 13. Jahrhundert, in teils erheblicher Verdichtung bezeugt sind. In der hebräischen Überlieferung wird dabei die jüdische Existenz in beiden Lebensräumen, Stadt und Land, differenziert wahrgenommen. Zum einen kennt sie die „Benei Ha-Kefarim“, die „Leute aus den Dörfern“, was Juden in ländlichen Ortschaften klassifiziert, zum anderen weist sie eine entwickelte hebräische Terminologie auf, die die Siedlungsqualität jüdischer Niederlassungen beschreibt. Diese eindeutige Begrifflichkeit spricht zum einen allgemein von „Jischuw“ („Siedlung“), um eine jüdische Präsenz anzuzeigen, aber auch von „Ir“ und „Kahal/Kehila“ („Stadt“, „Gemeinde“), um das urbane jüdische Zentrum innerhalb einer christlichen Stadt zu benennen. Eine solche Gemeinde blieb dabei nicht auf die ummauerte Stadt beschränkt, sondern hatte durch Institutionen wie Synagoge und Friedhof eine Anziehungskraft auf die ländlichen jüdischen Siedlungen und Gemeinschaften, weshalb man eher von einer Region sprechen sollte. Im Spätmittelalter wird diese mit eigenen Rechtssatzungen zu einem Rechtsraum zusammengefasst (Bsp.: „Takkanot Medinat Worms“, „Takkanot Medinat Franken“). In der hebräischen Terminologie des Spätmittelalters wird dieser Raum als „Medinah“ bezeichnet. Fand dieser Begriff noch im Hochmittelalter, analog zum Begriff der „Civitas“ als Bezeichnung der Kathe-dralstädte, für die jüdischen Gemeinden in den Kathedralstädten Verwendung (Bsp.: „Medinat Magenza“ für Mainz), so wurde er schließlich auf die den urbanen jüdischen Zentren zugeordneten Regionen jüdischer Siedlungen ausgeweitet. Diese besonderen Organisationsformen konnten im Reich auch nach dem Wegfall der allermeisten urbanen jüdischen Gemeinden seit dem 15. Jahrhundert überdauern. So konnte Barzen für das 16. Jahrhundert im süddeutschen Raum im Falle der „Medinat Franken“ nach dem Wegfall der Gemeinde Würzburg ein Fortbestehen der jüdischen Region mit wenigen ländlichen Siedlungen feststellen. Vergleichbare Entwicklungen von Zusammenschlüssen von ländlichen jüdischen Siedlungen sind seit dem 16. Jahrhundert auch für das Elsass nachgewiesen.

Abschließend stellte Barzen fest, dass diese Landjudenschaften („Medinot“) in der Frühen Neuzeit zentrale Aufgaben der früheren urbanen Gemeinden (Friedhof, Rabbinat, Gericht etc.) übernahmen und dadurch zu wichtigen jüdischen Zentren des alten Reiches wurden. Nach den großen aschkenasischen Siedlungsbewegungen seit dem 14. Jahrhundert nach Italien, aber vor allem nach Polen, spielten die seit dem 16. Jahrhundert in Deutschland verbleibenden Juden allerdings nur noch eine untergeordnete Rolle und bildeten in der sich neue ausformenden aschkenasischen Welt die Peripherie.

Auch der Vortrag von Lucia Raspe (Frankfurt a.M.) zielte darauf ab, die Folgen des siedlungsgeschichtlichen Wandels, den die Ver­treibun­gen aus den alten urbanen Zentren des aschkenasischen Judentums am Ende des Mittelalters mit sich brachten, aus innerjüdischer Perspektive in den Blick zu nehmen. Zugrunde gelegt wurden die handschriftlich überlieferten minhagim-Bücher in jiddischer Sprache, in denen synagogaler Ritus (minhag) und Bräuche (minhagim) einer Gemeinde oder Region im Jahreslauf fest­gehalten sind. Auf Hebräisch fanden solche Werke seit dem 13. Jahrhundert zunehmende Verbreitung. Die jiddischen Handschriften sind – ebenso wie die jiddische Druckausgabe, die erstmals 1589 in Venedig erschien und dann zahlreiche Auflagen erlebte – noch weitgehend unerforscht.

Raspe konnte in einer ersten Bestandsaufnahme zeigen, dass die fünfzehn Handschriften (aus dem Zeitraum zwischen 1475 und 1575), die sich heute in öffentlichen Sammlungen befinden, vier unterschiedlichen hebräischen Werken zugeordnet werden können, die alle den west-­asch­ke­na­sischen Ritus vertreten; dies schließt eine Reihe von Belegen aus der italienischen Diaspora ein, da auch der italo-aschkenasische Ritus der west-aschkena­si­schen Gruppe angehört. Aus Ost­europa dagegen haben sich keine jiddischen minhagim-Handschriften erhalten. Ob dieser Befund der schlechteren Überlieferungslage zuzuschreiben ist oder ob er vielmehr darauf hindeutet, dass die jüdischen Emi-granten aus dem Westen in Polen und Litauen ein geringeres Bedürfnis nach ritueller Anlei­tung in der Volkssprache hatten, lässt sich kaum sagen.

Abschließend ging Raspe darauf ein, dass die im Reich entstandenen Handschriften die durch die Vertreibungen veränderten Bedingun­gen jüdischen Lebens deutlich hervortreten lassen. Wo Kolophon oder Ritus präzisere Aussagen erlauben, kann man davon ausgehen, dass sie für oder von Juden ge­schrie­ben wurden, die in ländlich geprägten Klein- und Kleinst­niederlassungen lebten. Nicht selten waren dies Siedlungsorte, die in vielfacher Weise auf eine zentralörtliche Stadt­gemeinde hin orientiert waren. Die jiddischen Brauchbücher zeigen, dass diese Orte an der Peripherie zum Teil über Jahrhunderte an den Traditionen ihrer durch die Ver­trei­bun­gen verlorenen Zentren fest­hielten. Sie erhellen damit den Übergang von den mittel­alterlichen Formenüber­örtlicher Selbst­organi­sation hin zu den frühneuzeitlichen Landjudenschaften, über den bislang noch nicht allzu viel bekannt ist.

Der Vortrag von Andreas Göller (Darmstadt) beschäftigte sich mit der jüdischen Besiedlung der urbanen Zentren Trier und Koblenz im Dreißigjährigen Krieg. Diese dienten während des Krieges einerseits aufgrund ihrer Befestigung als Schutzräume, andererseits waren Städte häufig Ziel der Aggression und konnten ggfs. besetzt werden. Der Fokus lag auf der Konstellation städtischer, geistlicher und landesherrlicher Eliten und der jüdischen Bevölkerung vor dem Hintergrund des militärischen Konflikts und innerstädtischer anti-jüdischer Auseinandersetzungen. Göller kam in diesem Zusammenhang zu dem Schluss, dass Urbanität für Juden während des Dreißigjährigen Krieges nicht zwangsläufig mit besserem Schutz einhergehen musste.

In ihrem Vortrag stellte Maria Cieśla (Warschau) ein Forschungsprojekt zu den Kontakten zwischen Juden und Christen in der Stadt Słuck vor. Das im Süd-Osten Litauens gelegene Słuck gehörte im 17. Jahrhundert der adligen Familie Radziwiłł und war eine der größten Privatstädte des Großfürstentums und ein wirtschaftliches, administratives und religiöses Zentrum. In der Stadt lebten Angehörige der Orthodoxen Kirche und Anhänger des evangelisch-reformierten Glaubens. 1601 wurde offiziell eine jüdische Gemeinde gegründet, deren Mitglieder u.a. aufgrund der geographischen Lage, der günstigen Privilegien und der schwachen Position der christlichen Bürger ab Mitte des 17. Jahrhunderts etwa 30 bis 40% der Stadtbevölkerung stellten.

Für eine mikrogeschichtliche Analyse der christlich-jüdischen Beziehungen wird angenommen, dass die Beziehungen zwischen diesen beiden Religionsgruppen in alltäglichen kontextuell bestimmten Handlungen aufgebaut wurden. Diese werden anhand des Raumkonzepts von Henri Lefebvre und des „relationalen“ Raummodells von Martina Löw analysiert (u.a. private Wohnräume, Arbeitsräume, „Freizeiträume“ (Bierstuben und Schänken), Machträume (Rathaus, Gericht, Burg des Besitzers) und religiöse Räume). Als Grundlage dienen hierfür Quellen aus dem Stadtarchiv (u.a. Gerichtsakten, Inventare, Supplikationen der jüdischen und christlichen Stadtbewohner, Privilegien).

Laut Cieśla habe die mikrogeschichtliche Analyse der religiösen Topographie in der Stadt gezeigt, dass die jüdische Besiedlung sich auf zwei Bereiche konzentrierte: Die sog. Jüdische Straße mit ihrer homogen jüdischen Anwohnerschaft, die zugleich das religiöse Zentrum (Synagoge, Hekdesch) bildete. Hier wohnten vor allem ärmere Menschen, die als Händler oder Handwerker arbeiteten. Am Markt als dem wirtschaftlichen Zentrum der Stadt lebten hingegen wohlhabendere Kaufleute und Pächter. Bereits die Siedlungstopographie spiegelt die gravierenden sozialen Unterschiede der jüdischen Bevölkerung.

Am Beispiel zweier reichsritterschaftlicher Dörfer mit jüdischen Bewohnern, Mansbach bei Hünfeld (Hessen) und Wilhermsdorf bei Fürth (Mittelfranken), entwickelte Dieter Wunder (Bad Nauheim) die These, dass sich im Zusammenwirken von Adligen und Juden ländliche Ortschaften mit zentralörtlichen Funktionen entwickelten.

Mansbach war ein reichsritterschaftliches Kleinstterritorium im Kanton Rhön-Werra mit drei großen Adelsgütern und drei Dörfern (Mansbach, Pferdsdorf, Wenigentaft), das unter der Gerichtsbarkeit des gemeinsamen Amtmanns der reichsritterlichen Familien Mansbach und Geyso stand. Auf Grundlage des gut erhaltenen Adelsarchivs der Geyso lässt sich nachweisen, dass Mansbach aufgrund der wirtschaftlichen Aktivitäten der Juden zu einem zentralen Handelsort wurde: sie waren Handelspartner der Gutsherren für deren Bedarf an hochwertigen Waren sowie den Vertrieb der Gutsprodukte, Kramladeninhaber im Dorf, Wanderhändler in den Nachbarorten oder transregionale Händler (Hessen-Kassel, Stift Paderborn), vereinzelt betätigten sie sich als Verleger für die Wollverarbeitung. Die ökonomischen Möglichkeiten der Juden beruhten auf der Handelsfreiheit (gewährleistet durch das kaiserliche Große Speyrer Judenprivileg von 1544), die allerdings durch viele einzelstaatliche Regelungen zu Aufenthaltserlaubnis, Zöllen usw. eingeschränkt wurde. Die Juden in Mansbach waren insgesamt wohlhabender als in den meisten anderen Dörfern mit jüdischer Ansiedlung.

Die allgemeine Rechtslage der Juden war der der Christen ähnlich, daher gab es keine eigene obrigkeitliche Judenordnung wie in fürstlichen Territorien. Die jüdische Autonomie in religiösen Angelegenheiten wurde 1749/50 in einer vom Rabbiner im benachbarten Vacha (Hessen-Kassel) entworfenen und von den adligen Herren modifizierten „Judenordnung“ geregelt.

Für das mittelfränkische Wilhermsdorf, das Wunder als zweites Beispiel vorstellte, seien Ähnlichkeiten zu Mansbach zu konstatieren, allerdings weise der Ort zwei Besonderheiten auf: Da der Markt von 1666 bis 1769 unter der Herrschaft der Grafen von Hohenlohe-Neuenstein und ihrer Erben stand, war er gut hundert Jahre Residenz mit entsprechendem Bedarf an hochwertigen Gütern. 1669 holte der Graf jüdische Drucker nach Wilhermsdorf, die das Dorf zu einem wichtigen Druckort für hebräische und jiddische Schriften machten, der erst 1739 von Fürth abgelöst wurde.

Wunder machte die Zentralörtlichkeit beider Orte an der reichsritterschaftlichen Selbstständigkeit mit den Sitzen der Adligen fest: Diese zeige sich in der Größe der jüdischen Ansiedlung (Mansbach 1723/31: 23 Familien, etwa 13 Prozent, und Wilhermsdorf 1742: etwa 20 jüdische Familien, etwa 17 Prozent der Einwohner), dem vielfältigen Handel, dem Judenfriedhof und der Synagoge.

Maximilian Grimm (Eichstätt) verwies in seinem Vortrag eingangs auf die Charakteristik von Räumen und die Bedeutung von zentralen Orten in räumlichen Einheiten, die durch bestimmte Zentralitätsfaktoren bewertet werden können. Obwohl dieses Modell zur Unterscheidung von ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ inzwischen Kritik erfahren hat, kann es noch immer fruchtbar gemacht werden, um Bedeutungsgefälle in Räumen zu analysieren. Hierfür können zum Beispiel administrative oder ökonomische Gesichtspunkte ebenso wie die Infrastruktur herangezogen werden.

Sein Untersuchungsraum, das Herrschaftsgebiet des Deutschen Ordens in der Ballei Franken und dem Meistertum Mergentheim, wuchs seit dem Mittelalter durch Schenkungen und Käufe und baute auf einem komplexen Konglomerat an Besitzungen und Rechten auf. Gekennzeichnet war dieses Territorium durch kleinräumige Strukturen, Exklaven und Streubesitz, wodurch sich der Orden in die territoriale Kleinkammerung im Südwesten des Alten Reichs einfügte. Innerhalb seiner unzusammenhängenden Gebiete war die Verwaltung der Ballei Franken und des Meistertums Mergentheim eng miteinander verschränkt. Der hierarchische Verwaltungsaufbau des Deutschen Ordens war über die Mittlerzentren Mergentheim und Ellingen hinweg auf den Hoch- und Deutschmeister ausgerichtet. Das Privileg des Judenschutzes wurde von ihm beansprucht, und die Verwaltung in Mergentheim erlangte bezüglich des Judenschutzes größere Bedeutung.

Aufgrund der rechtlichen und räumlichen Situation in den größeren städtischen Zentren beschränkten sich die jüdischen Ansiedlungen im Deutschordens-Gebiet meist auf ländliche Besitzungen und kleinere Städte wie Mergentheim, Neckarsulm oder Ellingen – wobei die Schwerpunkte der jüdischen Ansiedlungen entlang der Tauber und am Neckar lagen. In der Ballei Franken dagegen verorteten sich die Siedlungsschwerpunkte räumlich wesentlich isolierter. Gemeinsam war ihnen hingegen die verkehrsgünstige Lage. In gewissem Maße wurde damit die Abwesenheit wirtschaftlicher Oberzentren im Ordensgebiet kompensiert, da bedeutende Wirtschaftsplätze wie Heilbronn oder Nördlingen außerhalb lagen.

Die kleinräumigen Strukturen Frankens und Schwabens stellten einen Nachteil dar, da Handelsbeziehungen durch Zollgrenzen und Handelsbeschränkungen beeinträchtigt wurden. In vielen dieser Siedlungsorte gab es eigene Beträume und in den größeren Orten Synagogen, die häufig über eigenes Personal verfügten. Damit konnte sich das jüdische Gemeindeleben auf lokale Ankerpunkte hin ausrichten, die jedoch keine überregionale Bedeutung erlangen konnten.

Insgesamt stellte Grimm fest, dass das Herrschaftsgebiet des Deutschen Ordens lediglich durch untergeordnete Zentren geprägt war. Auf Reichsebene spielte es wirtschaftlich und politisch nur eine nachgeordnete Rolle. Daher kann man dieses Territorium unzweifelhaft als ‚Peripherie‘ bezeichnen. Das jüdische Leben innerhalb dieser unzusammenhängenden Räume hatte sich im 17. und 18. Jahrhundert auf diese Situation eingestellt und fügte sich darin ein. Es zeigt sich ein weiteres Gefälle zwischen den wirtschaftlich besser situierten Kleinstadtgemeinden und dem ländlich geprägten Umland. Nichtjüdische und innerjüdische Verwaltung bauten aufeinander auf und hatten eigene Zentren innerhalb des Territoriums eingerichtet, während das religiöse Leben und die wirtschaftlichen Aktivitäten der jüdischen Siedlungen nicht selten nach außen, auf Territorien außerhalb des Deutschen Ordens gerichtet waren. Das Bild der jüdischen Siedlungen unter dem Deutschen Orden zeigt daher, bei sehr unterschiedlicher Qualität, verschiedene Siedlungstypen, die in ein multipolares Netzwerk von Orten mit zentraler Bedeutung eingebunden waren, die sowohl innerhalb als außerhalb des Herrschaftsgebietes lagen.

Ausgangspunkt des Werkstattberichts von Rotraud Ries (Würzburg) zu Norddeutschland war die Frage, ob auch hier Friedhöfe und Rabbinate als zentrale Indikatoren für die Bildung von ländlichen und vorstädtischen jüdischen Zentren der Frühen Neuzeit angesehen werden können. Denn die Neuorganisation nach den Vertreibungen des Spätmittelalters in Süddeutschland offenbart sich zuallererst in den Friedhöfen, auf die nicht verzichtet werden kann: So entstanden beispielsweise im heutigen Unterfranken zwischen 1350 und 1600 (v.a. abseits der städtischen Zentren) 13 neue Friedhöfe. Rabbinate bzw. Landesrabbinate folgten in der Regel erst seit dem 17. Jahrhundert.

Die Siedlungsentwicklung in Westfalen und im heutigem Bundesland Niedersachsen verlief zweigeteilt. Nur im Osten Westfalens kann im 15. und 16. Jahrhundert von nennenswerten Ansiedlungen die Rede sein. Der Südosten Niedersachsens (Hannover, Hildesheim) zeichnete sich im Vergleich zum Süden durch eine leicht schwächere Zäsur um 1350 und wenig dauerhafte Vertreibungen im 15. Jahrhundert aus, die im 16. Jahrhundert angesichts eher schwacher Landesherrschaften noch einmal in eine Phase aktiver, aber elitärer städtischer Judenpolitik übergingen. Die Konsolidierung folgte wie anderswo seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts unter der Ägide der Landesherren.

Bis auf das im Fürstbistum Münster gingen alle Landesrabbinate auf das 17. Jahrhundert zurück. Münster gehörte noch bis 1771 zum Kölner Landesrabbinat. Die beiden anderen Landesrabbinate in geistlichen Territorien wurden früh – bezeichnenderweise aber nicht in den opponierenden Kathedralstädten – eingerichtet und dürften ebenfalls von Köln beeinflusst gewesen sein, das die Fürstbistümer Hildesheim und Paderborn in Personalunion regierte. In Niedersachsen entstanden die Rabbinate in den urbanen, residenzstädtischen Zentren. Im Paderborner Raum etablierte sich schon seit dem 16. Jahrhundert v.a. die Stadt Warburg als jüdisches Zentrum, denn dort gab es bereits Rabbiner.

Für Westfalen und Niedersachsen wurden die Friedhöfe bis 1830 (inklusive der nicht erhaltenen), die Chronologie der Anlage und ihre Verteilung (Stadt – Land) erfasst und manuell kartiert. Die Anzahl ist in beiden Regionen mit etwa 180 fast identisch. In Westfalen sind jedoch mit 4.855 besonders wenige Steine erhalten, in Niedersachsen immerhin ca. 10.000 Steine. Für den Vergleich wurde die Fläche der Regionen herangezogen: In Unterfranken gab es bis 1830 32 Friedhöfe. Seine Fläche ist weniger als halb so groß wie die von Westfalen und passt etwa fünfeinhalb Mal in Niedersachsen. Der Vergleich der Anzahl der Friedhöfe pro Fläche zeigt, dass ihre Dichte in Westfalen etwa doppelt so hoch war wie in Unterfranken und in Niedersachsen.

Die 27 noch erhaltenen Friedhöfe in Unterfranken weisen im Schnitt 890 Steine auf, 21 mittelfränkische 930 und die 14 Friedhöfe in Oberfranken 510 Steine. Die fränkischen Friedhöfe sind im Vergleich zu denen weiter nördlich älter, ländlicher und wesentlich größer. Wegen des starken Zerstörungsgrades der Friedhöfe in Westfalen und der wenigen erhaltenen Steine sagt die Berechnung der durchschnittlichen heutigen Anzahl der Steine dort nichts mehr aus: Auf 65 Friedhöfen sind keine Steine, auf 46 nur bis zu 20 Steine erhalten. Nur drei von ihnen, die alle noch nach 1945 genutzt wurden, haben überhaupt mehr als 200 Steine. In Niedersachsen gibt es 122 Friedhöfe, auf denen die Steine erhalten sind, im Schnitt 82 Steine pro Friedhof. 34 Friedhöfe verfügen noch über bis zu 20, 12 haben mehr als 200, Hannover und Emden sogar über 700 Steine.

Im heutigen Niedersachsen gab es ab 1350 bis ins 16. Jahrhundert lediglich zwölf Neu- oder Wiedergründungen, während im 17. Jahrhundert eine Expansion mit 20 Neugründungen, v.a. in größeren Städten wie Goslar und Göttingen und diversen Mittelstädten einsetzte. Im 18. Jahrhundert kann man ein starkes Wachstum mit 70 Neugründungen in Klein- und Mittelstädten konstatieren. Zwischen 1800 und 1830 werden weitere 75 Friedhöfe angelegt, viele davon abseits der städtischen Zentren. Viele jüdische Siedlungen verfügten über ihren eigenen Kleinst- oder Klein-Friedhof. Eine gemeinsame Nutzung von Gebietsfriedhöfen (wie in Süddeutschland) gab es nur vereinzelt.

Als Fazit konstatierte Ries, dass Friedhöfe wegen ihrer breiten Streuung als Zentralitätskriterium neuer jüdischer Infrastruktur in der Frühen Neuzeit in Westfalen und Niedersachsen eher ausscheiden. Für einen Strukturvergleich sei noch viel weitere Arbeit nötig ist. Die Frage nach der Urbanität jüdischer Zentren sei für jede Region anders zu beantworten. Der differenzierte Befund weise auch darauf hin, dass es regional unterschiedliche Lösungen für die Grundbedürfnisse jüdischen Lebens gab und dass es zu kurz greift, allein das Landjudentum Süddeutschlands und die wenigen dortigen städtischen Zentren zum Maßstab zu nehmen. Besondere systematische Aufmerksamkeit verdienten in diesem Zusammenhang die „Vorstädte“ und die Frage nach ihren urbanen und zentralen Qualitäten.

In seinem Vortrag präsentierte Michaël Green (Kopenhagen) exemplarisch an zwei Ego-Dokumenten von jüdischen Autoren im frühneuzeitlichen Amsterdam einen Forschungsansatz, der am Centre for Privacy Studies an der Universität von Kopenhagen entwickelt wurde. Privacy ist in diesem Zusammenhang zwar ein moderner Begriff, doch lässt sich ausgehend von heuristischen Zonen Privatsphäre in den Grenzen verschiedener Handlungsbereiche in der frühneuzeitlichen Welt analysieren. Dazu gehören die Bereiche der Seele, des Körpers, des eigenen Raums, des Zuhauses, der Gesellschaft oder des Staats, die sich z.T. gegenseitig überlappen, einschließen oder ausschließen können.

Green zeigte anhand von Isaac de Pinto (1717-1787) und Abraham Haym Braatbard (1699-1768), wie wichtig der private Bereich für die jeweilige Person jüdischen Glaubens war und inwiefern das Zuhause für repräsentative Zwecke – nämlich um enge Beziehungen zur politischen Elite in den Niederlanden aufzubauen – benutzt wurde. Dem eigenen Heim der niederländischen Juden kam nach Green eine doppelte Funktion zu: Es brachte Familie und Geschäft unter einem Dach zusammen. So lud beispielsweise Pinto den neuen Statthalter in sein Haus ein, was im Umkehrschluss bedeutet, dass sich die private und öffentliche Sphäre aufgrund des Repräsentationsbedürfnisses der jüdischen Gemeinde im Staat überschnitten. In diesem Zusammenhang ging Green auch auf die Schwierigkeiten und Chancen beim Umgang mit der Terminologie in den verschiedenen Sprachen ein. So variiert beispielsweise die Bedeutung des Begriffs “geheim” im Niederländischen und Deutschen – sowie im frühneuzeitlichen und modernen Kontext.

Für seine Arbeiten sichtete Green 66 Ego-Dokumente, die in Amsterdam entstanden sind. Zusätzlich zu der Sephardischen Gemeinde, zu der de Pinto gehörte, hatte sich im späten 17. Jahrhundert eine aschkenasische Gemeinde herausgebildet, die nach 1700 rund 20.000 Mitglieder zählte.

Elisabeth Loinig (St. Pölten) ging der Frage nach, ob Wien als Stadt von europäischem Rang auch als Zentrum einer jüdischen Welt zu bezeichnen sei. Sie skizzierte kurz die historischen Voraussetzungen: 1670/71 war auf kaiserlichen Befehl die gesamte jüdische Bevölkerung aus Wien und Niederösterreich vertrieben worden. Fortan war das Ziel der kaiserlich-landesfürstlichen Politik, möglichst nur finanzkräftige Juden mit Einzelprivilegien, der sogenannten Toleranz, auf beschränkte Zeit in die Stadt zu holen. Eine Gemeinde mit den notwendigen Institutionen durfte nicht gegründet werden. Erst mit dem sogenannten Toleranzpatent Kaiser Josefs II. von 1782 eröffneten sich neue Erwerbszweige und endeten einige der diskriminierenden Bestimmungen.

In der Hoffnung auf wirtschaftlichen Erfolg entwickelte sich die Haupt- und Residenzstadt im Verlauf des 18. Jahrhundert ganz unzweifelhaft zu einem Anziehungspunkt für reiche wie für arme Juden und Jüdinnen. Das Umland, das unmittelbare Einzugsgebiet eines „normalen“ Zentrums, war für jüdische Ansiedlung weiterhin verboten. Die nach Wien kommenden jüdischen Zuwanderer stammten daher vor allem aus Böhmen, Mähren und Ungarn, viele Familien der Oberschicht kamen zudem aus dem Reich. Erst mit der Ansiedlungsfreiheit nach 1848 konnte sich eine „normale“ Interaktion mit dem Umland entwickeln. Wien blieb der Sehnsuchtsort, wie die Bevölkerungsentwicklung von Stadt und Umland im 19. Jahrhundert eindrucksvoll beweist: Infolge der Niederlassungsfreiheit „explodierte“ die Wiener jüdische Bevölkerung. Sie stieg von 2000 (1848) auf 175.000 im Jahr 1910 (8,6% der Wohnbevölkerung Wiens). In Niederösterreich hingegen blieb die jüdische Bevölkerungszahl niedrig.

Religiöses Zentrum wurde Wien erst im frühen 19. Jahrhundert, da die öffentliche Religionsausübung lange verboten blieb, die Genehmigung eines ersten gemeinsamen Bethauses (1810) markiert einen wichtigen Wendepunkt. Von der neuerbauten Synagoge (1826), ihrem ersten Rabbiner Isaak Noah Mannheimer und dem Kantor Salomon Sulzer ging der neue, wegweisende Wiener Ritus aus, der in die Habsburgermonarchie ausstrahlte.

Loinig führte aus, dass die im 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eng gesteckten administrativen und normativen Grenzen von Juden und Jüdinnen immer wieder erweitert und überschritten wurden – der Mehrzahl gelang dies innerhalb des Judentums, ein nicht unerheblicher Prozentsatz wählte allerdings auch mit der Taufe die völlige Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft. Bei der schrittweisen Aufweichung der restriktiven Normen nahmen die wohlhabenden Schichten durch ihren wirtschaftlichen Einfluss, ja ihre Unentbehrlichkeit eine Vorreiterrolle ein. Ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts begann sich die soziale Schichtung aufzufächern. Zahlreiche Jüdinnen und Juden, vor allem aus den nördlichen und östlichen Ländern des Habsburgerreiches, drängten nach Wien und bildeten einen fest im Leben der Stadt verankerten Mittelstand.

Fazit

Ulrich Hausmann leitete die Schlussdiskussion ein und stellte fest, dass viele Ergebnisse auch unter dem Thema „Diversität statt Zentralität“ zusammenzufassen seien. Anschließend analysierte er eingehend unterschiedliche Zentralitätsfaktoren. In diesem Zusammenhang ging er auch auf die herrschaftlichen, administrativen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren ein. Zudem konstatierte er, dass vermeintliche „Peripherie“ auch jüdisches „Zentrum“ sein konnte. Rotraud Ries ergänzte, dass das Thema „Vorstädte“ während der Tagung kaum zur Geltung kam und man sich auf einen adäquaten Begriff einigen müsse. Außerdem sei Diversität nur beschreibend und genüge nicht als Definition. Sabine Ullmann (Eichstätt) merkte an, dass Zuschreibungen von Zentralität – wie beispielsweise Wien als „Sehnsuchtsort“ – mit in die Überlegungen aufgenommen werden müssen, da diese für die Entstehung von Zentralität eine Rolle spielen. Lucia Raspe stellte klar, dass die Vorträge von Maximilian Grimm und Rainer Josef Barzen gezeigt haben, dass jüdische und christliche Zentralitätsfaktoren nicht immer vergleichbar sind. Zwar schien es hier im Mittelalter noch Parallelen zu geben, doch veränderte sich dies bis in die Frühe Neuzeit: Die zentrale kehilla konnte sich auch in einem Dorf befinden. Rainer Barzen stimmte zu und ergänzte, dass auch beim Wegfall eines urbanen Zentrums bestehende Regelungen und Strukturen fortwirken konnten. Heide Wunder (Bad Nauheim) verwies auf analoge Änderungsprozesse im Rahmen der Territorialisierung, auf die sich wandelnde Rolle der Städte in der Frühen Neuzeit. Maria Ciesla plädierte für einen mikrogeschichtlichen Ansatz: Bisher sei vieles nur unter einem strukturellen Aspekt betrachtet worden. Dies sei zu ergänzen um eine Fokussierung auf die Menschen. Rotraud Ries schloss sich dem an und hielt fest, dass einzelne Personen für die Entwicklung neuer Optionen und Entwicklungen prägend gewesen seien, dass sich aus einzelnen Handlungen größere Strukturen entwickeln konnten. Was bedeutet Zentralität in verschiedenen Kontexten und wie verändert sich diese? Sie gab zu bedenken, dass „Peripherie“ immer relativ zu sehen sei.

Als Thema für die nächste Tagung wurden die Vorschläge „Recht und Gericht“, „Familie und Beziehungen“ und „Scheitern“ diskutiert. Da „Familie“ in unterschiedliche Richtungen anschlussfähig erschien und einen Blick in verschiedene soziale Schichten eröffnet, entschied sich die Mehrheit der Teilnehmer für dieses Thema. Christian Porzelt (Bamberg), Franziska Strobl und Maximilian Grimm (beide Eichstätt) sowie Christoph Cluse (Trier) erklärten sich bereit, als Organisationsteam dafür zu fungieren. Rotraud Ries sagte ihre Unterstützung zu. Abschließend schlug Wolfgang Treue (Duisburg) einen Bogen vom aktuellen zum kommenden Tagungsthema: Familiennetzwerke können zwischen Zentren und Peripherien vermitteln. Rotraud Ries dankte abschließend allen für die Diskussionsbeiträge und dem Organisationsteam für die zurückliegende, gemeinsame Arbeit.

Aufgrund der auch im Februar 2021 weiterhin erforderlichen Vorsichts- und Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus, die einen Ablauf der Tagung im normalen Rahmen nicht erlauben, haben Aktive aus dem Arbeitskreis vorgeschlagen, die Tagung im Jahr 2021 ausfallen zu lassen. Dies wurde mit der Akademie abgestimmt. Das nächste Treffen zum Thema „Familie“ wird also erst 2022 stattfinden.

Programm 21 2020

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